Ende der Saison

Hörstück von Klaus Fehling

Fassung vom: 12. November 2018

Personal

ER, Mitte bis Ende vierzig, männlich.
ARZT 4, als Aufzeichnung eines Diktiergeräts aus „Nicht mein Bein“ (WDR 2007)
ARZT 1-3, unterschiedliche Expertinnen und Experten verschiedenen Alters
FRAU IN DER BAHN, über sechzig
SIE, Anfang bis Mitte vierzig, weiblich
PARTNERIN 1-2, unterschiedlichen Alters
VERKÄUFER 1-2
PAKETBOTE
CAMPER

Situation

Draußen, an einem Bach oder Fluss, Natur
(Oder im Text vorgegebene Atmo)

ER:
Heute ist hier
das Ende der Saison.
Die ersten Tiere kamen schon,
um nachzusehen,
ob endlich wieder Ruhe herrscht.

Gestern traf ich auf dem Weg zum Zähneputzen
eine Erdkröte,
ein großes, braunes Tier,
das mir schwerfällig vor die Füße sprang.

Das war so ein Geräusch,
wie wenn ein schwerer, nasser Mantel
auf den Boden fällt.

Und heute,
kurz vor dem Sonnenaufgang,
stand ich zum ersten Mal in meinem Leben
einem Wildschwein gegenüber.

Das stolze Tier war
– genau wie ich –
erstaunt
und wie angewurzelt stehen geblieben.
Dann ist es zurück in seinen Wald gelaufen
und ließ mich stehen.

Die Tage sind jetzt endlich
nicht mehr so heiß.
In diesen letzten Nächten
schwirren tausende von silberweißen Motten
im Licht der Wegbeleuchtung.
Ich kann sie nur mit Mühe
von den Sternen unterscheiden.

Seit Jahren schon
werde ich
zuverlässig um fünf Uhr wach –
weil dann die Wirkung des Medikaments nachlässt.

End-of-dose-Akinese.

Dann fällt es mir schwer,
ruhig bei Dir liegen zu blieben,
weil mein Beine die Unbewegtheit nicht aushalten.
In den letzten Wochen
habe ich
schon sehr viele Sonnenaufgänge erlebt.
Dieser hier
war ganz besonders schön.

Heute ist das Ende der Saison.

Ich gehe noch einmal zurück
an den Anfang:

Es ist jetzt mehr als 20 Jahre her.
Ich war noch keine Dreißig.
Der Sommer,
in dem ich das Zittern zum ersten Mal bemerkt habe,
war ähnlich heiß wie dieser.

Der Beginn der Reise,
die mich hierher
unter den Sternenhimmel
an diesen Fluss geführt hat,
in dessen Wasser ich gestern noch
flussaufwärts gewandert bin –
dieser Anfang war vor dreizehn Jahren,
als das Problem
nach einer langen Suche
endlich einen Namen bekommen hatte.

[ATMO: Arztzimmer/Krankenhaus]
(Ein Diktiergerät wird eingeschaltet, zurückgespult und abgespielt)

ARZT 4:
(aus dem Lautsprecher)

Zur aktuellen Anamnese ist zu berichten, dass der Patient vor acht Jahren ein Zittern im Bereich des linken Beines verspürt habe. Dieses habe sich dann im Verlauf langsam progredient auf das rechte Bein sowie auf beide Arme ausgeweitet. Zusätzlich gibt der Patient eine ausgeprägte Steifheit der Extremitäten an, beklagt Muskelkrämpfe, eine Zunahme des Zitterns bei Aufregung sowie eine Veränderung der Schrift.

In der psychischen Untersuchung fand sich ein wacher, bewusstseinsklarer, allseits orientierter Patient.

(Diktiergerät Pause)

ER:
Was haben die anderen Untersuchungen ergeben?

(Das Diktiergerät wird wieder gestartet)

ARZT 4:
(aus dem Lautsprecher)

In der neurologischen Untersuchung fand sich ein rechtshändiger Patient ohne Meningismus. Hirnnervenstatus unauffällig. Die Muskeleigenreflexe sind an der oberen Extremität seitengleich mittellebhaft, an der unteren Extremität seitengleich lebhaft erhältlich. Spastische Zeichen fehlen. Keine Paresen. Sowohl an der oberen als auch an der unteren Extremität ein rechtsbetonter Rigor. Dysdiadochokinese linksbetont. Koordination in Finger-Nase-Versuch und Knie-Hacke-Versuch regelrecht. Ausgeprägter Ruhe- und Haltetremor. Vermindertes Mitschwingen der Arme. Hypomimie sowie posturale Instabilität beim Zugtest. Positives Zahnradphänomen. Stand- und Gangvarianten unsicher. Romberg- und Unterberger-Tretversuch ohne gerichtete Fallneigung. Mikrographie.

Im PET mit 18-F-Dopa zeigen sich deutliche Erniedrigungen des Dopaminstoffwechsels in beiden Putamina, auf der linken Seite deutlicher ausgeprägt als auf der rechten Seite. In Zusammenschau mit den hier durchgeführten Racloprid-PET sprechen die Befunde für das Vorliegen eines idiopathischen Parkinsonsyndroms.

ER:
Scheiße!

ARZT 1:
Ja.

[ATMO: Geräusche des Waldes, Vögel, ab und zu ein Specht]

ER:
Es begann mit einer Prognose.

[ATMO: Arztzimmer/Krankenhaus]

Was bedeutet das?

ARZT 1:
Treiben Sie Sport?
Achten Sie auf einen geregelten Alltag.
Vermeiden Sie Stress.
Unbedingt.
Nehmen Sie Ihre Medikamente regelmäßig.
Halten Sie dabei die Einnahmezeiten unbedingt ein.
Dann können Sie damit noch viele Jahre
gut zurecht kommen.

ER:
Wie viele Jahre?
Und was heißt
„zurecht kommen“?

ARZT 1:.
Die Verläufe können sehr unterschiedlich sein.
Sie sind noch jung.
Und jeder Parkinson ist anders.

[ATMO: anderes Arztzimmer/Krankenhaus]

ARZT 2:

Bereiten Sie sich darauf vor,
irgendwann
– vielleicht in zehn,
vielleicht auch erst in fünfzehn Jahren –

auf Hilfsmittel
wie einen Rollstuhl
angewiesen zu sein.

[ATMO: wieder Wald]

ER:

Mit meinen beiden Beinen stand ich gestern noch
hier im kalten, klaren Wasser zwischen den Fischen,
die flussaufwärts zogen –
was auch immer sie dort wollten –
sie können offenbar nicht anders.

Ich bin ihnen ein Stück gefolgt,
den Fischen,
und dann
– wo das Ufer wieder flacher wurde –
zurück an Land.
Um meine Tabletten zu nehmen.
Ich achte sehr darauf,
die Zeiten einzuhalten.

Jedes Jahr feiere ich
meinen Geburtstag ohne Räder unten dran.
Ich erinnere mich:
Vor ein paar Jahren
hatte ich mir einen Gehstock
mit einen silbernen Entenkopf
als Knauf angeschafft.
Das machte es leichter,
dachte ich.

Vor allem in der Straßenbahn
oder im Bus
musste ich weniger erklären.
Man konnte es mir ja nicht ansehen,
was es ist.
Aber es ist auch schon lange
nicht mehr zu übersehen.

Mein manchmal gebückter Gang,
die kleinen Schritte –
dreizehn für eine Drehung meines Körpers –,
die leise Stimme,
die Starre
und die Überbewegungen
durch die Medikamente,
die Unsicherheit beim Stehen,
das manchmal ausdruckslose Gesicht …
all das musste doch Fragen aufwerfen,
dachte ich.
Der Stock sollte die Antwort sein.

Aber die Wenigsten fragen.

[ATMO: In einer Straßenbahn oder einem Bus]

FRAU IN DER BAHN:

Möchten Sie sich hinsetzen?

ER:

Danke.
Das ist sehr nett von Ihnen.
Wissen Sie, ich habe …

[ATMO: wieder Wald]

Irgendwann habe ich ihn dann
mal irgendwo vergessen
und erst Zuhause bemerkt,
dass der Stock nicht mehr da ist.

Heute habe ich zwei davon.
In meinem Schrank.
Dort warten sie darauf,
gebraucht zu werden
und geben mir ein sicheres Gefühl.

Vor wenigen Wochen noch
sah ich auf einem Hügel
bei der Ruine eines alten Klosters,
das wir zwei uns angesehen haben,
eine Gottesanbeterin.
Du hättest sie für einen etwas zu grünen Ast
auf dem Geröll halten können.
Sie war etwas,
das nicht an diesen Ort zu passen schien,
aber dennoch dort lebte.
Beim zweiten Hinsehen
erkannte ich die Heuschrecke.
Ein schönes Insekt.
Die sind extrem selten.
Ich habe sie dir gezeigt,
so wie ich dir auch von den Sonnenaufgängen erzähle.
Ich achte mehr auf solche Einzelheiten jetzt.
Es war ein schöner Ort
dort bei dem Kloster.

Ich schreibe aber schon lange nicht mehr alles auf,
weil mir das Schreiben nicht mehr so leicht fällt
wie früher.

Liste der Dinge, die nicht mehr gelingen:
Rückwärts eine Treppe hinaufgehen und dabei eine volle Tasse tragen.
Stromschnellen durchqueren.
Tanzen, als ob niemand zuschauen würde.

SIE:

Das konntest du noch nie.

ER:

Aber ich hätte es gerne gelernt.
Vielleicht.

SIE:

Ich kann das auch nicht
und ich habe keinen Parkinson.

(kurze Stille)

ER:
Dies ist unsere Hochzeitsreise.
Seit sieben Wochen sind wir unterwegs.
Nur du und ich
und alles, was zu uns gehört.

Die ersten Wochen damals
– nach der Diagnose in der Klinik –
habe ich mich unbesiegbar gefühlt.

Heute weiß ich,
dass es dafür,
für diese ersten Wochen der Behandlung,
einen Namen gibt.

Zuerst gaben sie mir einen Dopaminagonisten –
das ist eine Substanz,
die einen bestimmten Transmitter in seiner Wirkung imitiert.

[Waldatmo aus]

ARZT 2:
Dabei besetzt der Agonist den entsprechenden Rezeptor und aktiviert die Signaltransduktion in der Zelle.

ER:
Plötzlich konnte ich wieder still sitzen.
Und lange Spaziergänge machen.
Alles war wie …
… früher?

[ATMO: wieder Wald]

Sie nennen diese Phase,
in der die Medikamente noch so gut wirken,
dass man glauben könnte,
wieder vollkommen gesund zu sein,
„Honeymoon“.

Sie erklärten mir,
dass ich vorsichtig sein müsse,

mit der Impulskontrolle
und dass ich nicht aufhören sollte,
vor die Türe zu gehen.

Das hätten sie mir gar nicht sagen müssen.
Ich wollte ja gar nichts anderes,
als sofort Loslaufen,
wie ein kleiner Junge,
der die Windpocken überstanden hatte.

[Waldatmo wird deutlicher]

ARZT 2:
Es kann zu folgenden Nebenwirkungen kommen:
Schwindel,
unwillkürliche Bewegungen des Gesichts …

ER:
Ja, ja.
Schon gut.
Wichtig ist, dass sie helfen.
Dass es vorbei ist.
Ich wollte nur noch laufen.
Überallhin.

ARZT 2:
Abnorme Träume,
Verhaltensauffälligkeiten,
Zwänge,

(leiser werdend, im Hintergrund)
Wahnvorstellungen,
Schlaflosigkeit …

ER:
(von Weitem, vergnügt)
Es war herrlich!
Über Stock und über Stein.
Das Leben
ging weiter.

ARZT 1:
Der Krankheitsverlauf kann sehr unterschiedlich sein.
Die Medikamente können das Fortschreiten des Untergangs
der betroffenen Nervenzellen in Ihrem Gehirn
zwar unter Umständen verlangsamen…

ARZT 2:
(gleichzeitig im Hintergrund)
…Gedächtnisverlust,
Kopfschmerzen,
Sehstörungen,
Verstopfung,
Erbrechen,
Müdigkeit,
Gewichtsabnahme,
Lungenentzündung,
Unruhe,
plötzliches Einschlafen,
Ohnmacht.
Halluzinationen …

[Waldatmo tritt immer mehr in den Vordergrund, bis sie schließlich alles andere übertönt]

ER:
(von Weitem)
Endlich!
Seht her!
Ich laufe!

[ATMO: Es kommen immer mehr Geräusche hinzu. Kinder im Schwimmbad, Meeresrauschen, Kirmes o.ä.]

ARZT 1:
(lauter werdend, gegen den Hintergrund)
Aufhalten lässt sich die Krankheit bisher nicht.

ER:
Ich fühlte mich wie …
wie …

[Waldatmo tritt in den Hintergrund]

PARTNERIN 1:
Was bedeutet das jetzt?

ARZT 2:
Die Patienten sollten
vom Arzt und ihren Angehörigen
regelmäßig hinsichtlich Verhaltensauffälligkeiten
wie krankhafter Spielsucht,
krankhaft gesteigertem Geschlechtsdrang,
zwanghaftem Geldausgeben oder Einkaufen,
Essattacken und Esszwang
beobachtet werden.

[ATMO aus. Stille.]

ER:
Ich fühlte mich
so wie …

(zögerlich unsicher)

Ich fühlte mich …

ARZT 2:
Wenn solche Symptome auftreten, sollte die Behandlung möglicherweise geändert werden.

[ATMO: Wald]

Ich erinnere mich noch
an den Anfang
und daran,
wie es war,
als der Honeymoon
dann vorbei war.

[ATMO: Arztzimmer/Krankenhaus]

Zu Beginn schien es so,
als wäre alles trotzdem wieder einfacher geworden.
Morgens und abends eine Tablette –
und die Steine in meinen Taschen
verloren ihr Gewicht.

[ATMO: Draußen. Natur. Schritte in einem langsam fließenden, flachen Fluss.]

Wie ein junger Hund auf einer Wiese
lief ich herum
und verschenkte mein Herz
mit Leichtigkeit
an jeden neuen Anfang.

[ATMO: Büro in einer Bank, bei einem Autohändler o.ä.]

VERKÄUFER 1:
Lesen sie sich den Vertrag noch einmal durch
und unterschreiben Sie hier
und hier
und hier.

ER:
(fröhlich)

Das ist alles?

(unterschreibt)

[ATMO: Anderes Büro]

VERKÄUFER 2:
Das ist alles.
Viel Spaß damit!

ER:
Den werde ich haben.
Vielen Dank.

[ATMO: Wald. Ein langsam rauschender Fluss. Ein Campingplatz. Von Weitem ein Radio: „Shake the Disease“ von Depeche Modei.]

Es machte mir nur wenig Mühe,
alles zu sein, was ich wollte.
Manchmal trauerte ich den Jahren nach,
die ich verloren hatte.
Aber ich schaute nach vorn.

(singt leise die ersten Zeilen von „Shake the Disease“ mit)

I‘m not going down on my knees
begging you to adore me
Can’t you see it’s misery
and torture for me
When I’m misunderstood
try as hard as you can
I’ve tried as hard as I could
To make you see
how important it is for me

Alle paar Wochen
ließen die Ärzte mich in der Luft Klavier spielen
und fragten,
ob ich gut schlafe
oder Depressionen hätte.
Manchmal änderten sie die Medikation.

[ATMO: Das Geräusch des fließenden Wassers wird stärker]

Pramipexol
Ropinirol
Rasagilin
Rotigotin

ARZT 3:
Die möglichen Nebenwirkungen sind …

ER:
(gegen das schnell lauter werdende Geräusch des Wassers, das jetzt im Vordergrund ist)
Stopp!
Ich brauche eine Pause!

[ATMO: Nur noch das wilde Rauschen des Flusses]

(Pause)

[ATMO: Wald, Campingplatz, Fluss im Hintergrund]

ER:
Ich ließ mich treiben
flussabwärts,
wo der Strom immer breiter wird.

Ich möchte raus.

[ATMO: Auf einer Karaokeparty]

PARTNERIN 2:
Ausgerechnet jetzt?

ER:
Jetzt.
Ja.

PARTNERIN 2:
Aber du bist jetzt gleich dran.
Und du wolltest doch unbedingt hierher.

(Das Playback zu „Shake the Disease“ beginnt)

ER:
Ich muss hier raus.
Jetzt.

[ATMO: Wald, Campingplatz]

ER:
Ich konnte alles sein.
Alles, was ich wollte.
Ich wollte immer schon ein Popstar sein.

(singt)
Here is a plea
from my heart to you
nobody knows me
as well as you do …

ARZT 2:
Es könnte möglicherweise im Zusammenleben zu Verhaltensauffälligkeiten wie beispielsweise
Halluzinationen,
Vergesslichkeit,
Demenz,
Unruhe und Bewegungsdrang,
Weglauftendenzen,
Wahnideen,
Psychosen
oder Aggressionen
kommen.

Diese Symptome können sowohl Merkmale der Parkinsonkrankheit als auch Nebenwirkungen der Medikamente sein. Bei ersten Anzeichen sollten Sie daher unbedingt Rücksprache mit dem behandelnden Neurologen halten.

PARTNERIN 2:
Wie wahrscheinlich ist das?

ARZT 1:
Diese Probleme können auftreten,
müssen aber nicht.

[ATMO: Eine Türklingel. Eine Tür wird geöffnet. Waldatmo aus]

ER:
Allerdings war ich morgens ein anderer als am Abend zuvor.

PAKETBOTE:
Ich habe hier eine Lieferung für Sie.
Wo soll ich sie hinstellen?
Wenn Sie dann bitte hier noch unterschreiben.

ER:
Kann ich das erstmal durchlesen?

PAKETBOTE:
(genervt)
Sie quittieren damit nur den Empfang.

Liste der Dinge, die nicht mehr gelingen:
Eine lesbare, wiedererkennbare Unterschrift leisten.
Der Strömung etwas entgegensetzen.
Längere Strecken Auto fahren.
Briefe rechtzeitig beantworten.

ARZT 2:
Da das idiopathische Parkinson Syndrom vornehmlich durch das Absterben der dopaminproduzierenden Zellen im Mittelhirn gekennzeichnet ist, kommt es durch den Mangel an Dopamin – einem wichtigen Botenstoff für die Reizweiterleitung – zu einer Verminderung der aktivierenden Wirkung der Basalganglien auf die Großhirnrinde und dadurch zu den Bewegungsstörungen.

ER:
(aus dem Wald)
Heute verstehe ich das.

[ATMO: Arztzimmer/Krankenhaus]

ARZT 2:
Aus diesem Grund geben wir Medikamente, die zu einer Erhöhung des Dopamin-Angebots im Gehirn führen oder das fehlende Dopamin ersetzende Arzneistoffe.

ER:
Die Dopaminagonisten.

ARZT 2:
Dopaminagonisten ahmen an den Dopamin-Rezeptoren die Wirkung von Dopamin nach.

ER:
(faltet einen Beipackzettel auseinander. Liest)
Die Patienten sollten keine Tätigkeiten ausüben, bei denen sie durch eingeschränkte Aufmerksamkeit sich selbst oder andere gefährden oder in Lebensgefahr bringen können…
(liest eine Weile leise weiter)

PAKETBOTE:
Würden Sie das jetzt bitte unterschreiben?

ER:
Ungern.

[ATMO: Offene Wohnungstür, Treppenhaus. Zeit vergeht (tropfender Wasserhahn, Ticken einer Uhr, Kugelschreibermine rein und raus o.ä.)]

PAKETBOTE:
(nach einer Weile des Wartens)
(Räuspert sich)

ER:
Was soll das?
Warum beobachten Sie mich?
Lassen Sie das!

PAKETBOTE:
Läuft da bei Ihnen irgendwo Wasser?

[ATMO: Wieder der wilde Fluss]

ER:
(kämpft hörbar angestrengt gegen die stärker werdende Strömung)

Hallo?
Ich möchte ans Ufer.
Hört mich jemand?

[ATMO: Stille. Langsam leiser werdendes rosa Rauschen o.ä.]

Ich griff nach jedem Ast,
den ich zu fassen bekam.
Beziehungen scheiterten.

Es musste etwas passieren.

[ATMO: Arztzimmer/Krankenhaus]

ARZT 3:
Es gibt ein Medikament, das wesentlich effektiver ist und im Vergleich zu einem Dopaminagonisten viel weniger mit Nebenwirkungen behaftet ist:

L-Dopa.

ER:
Das will ich haben.
Warum geben Sie mir das nicht?

ARZT 3:
Nach mehrjähriger Einnahme von L-Dopa können unwillkürliche Bewegungen, so genannte Dyskinesien, auftreten.
Sie sind noch sehr jung.
Sie haben noch viele Jahre vor sich.

[ATMO: Wald, Campingplatz]

ER:
Ganz ohne die Agonisten
geht es leider auch heute nicht.
Ich nehme aber jetzt viel weniger davon.
Stattdessen nehme ich sechsmal täglich L-Dopa.

ARZT 3:
So wenig wie möglich,
aber so viel wie nötig.
Sie sind noch jung
und haben noch viele Jahre
Ihres Lebens vor sich.

ER:
Ich fühle mich jetzt wieder mehr wie ich selbst
und bin mir selbst nicht mehr so unzuverlässig.
Ich achte aber auch heute noch darauf,
mein Zelt nicht zu weit weg von den Toilettenhäuschen aufzubauen.
Nicht nur, weil ich
– wenn ich nachts raus muss –
oftmals nur sehr kleine Schritte machen kann,
sondern auch wegen des
niemals ganz verschwundenen Gefühls,
dass mich alle immer anstarren.
Da ist es mir lieber,
wenn ich an möglichst wenigen Menschen
vorbei trippeln muss.

Manchmal
– ganz selten –
vermisse ich in solchen Situationen
meinen Gehstock mit dem Entenkopf.
Aber hier werden keine Fragen gestellt,
die eine Antwort erfordern würden.
Wenn ich dann am Ziel bin,
habe ich das meist schon wieder vergessen.

Ich halte mich gerne an Orten auf,
wo es normal ist,
nicht normal zu sein.

Es war ein stolzes Tier
irgendwie voller Selbstbewusstsein,
das Wildschwein von heute morgen.

Ich bin ein Experte geworden.

Ich habe gelernt,
dass kein Tag wie der andere ist.
Ich habe gelernt,
das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.

Ich lernte alles über

Akinese
Ataxie
Athetose
Dystonie
Bradyphrenie
Dysarthrie
Dyskinesie

(Immer rhythmischer werdend)

End-of-Dose
Peak-of-Dose
Haltetremor
Hyperkinesie

MAO-Hemmer
Botenstoff
Levodopa
Wearing-off

Retropulsion
Spätkomplikation
Rigor
Tremor
Propulsion

Dopamin
Acetylcholin
und das
Zahnradphänomen

Mit der Zeit lernte ich
dann auch,
damit zu leben.
Mit fast allen Konsequenzen.

ARZT 1:
Sie werden eine stark orange-gelbe Verfärbung Ihres Urins bemerken.

ER:
Damit werde ich leben können.

Liste der Dinge, für die Lösungen gefunden werden müssen:
Planung der Zukunft, der Karriere und des gesamten weiteren Lebens.
Sicherstellung der Versorgung mit Medikamenten.
Regelmäßige Betreuung durch Fachärzte.
Weiße Unterwäsche.

Was ich kann
und was ich nicht kann
ändert sich von Tag zu Tag.
Wenn ich heute die Augen schließe
und etwas schreiben will –
auf ein Blatt Papier –

(schreibt)
LISTE DER DINGE, FÜR DIE MANCHMAL DIE KRAFT NICHT REICHT

dann kann ich nicht sicher sein,
was am Ende auf dem Papier ankommt.
Ich weiß erst,
ob da,
anstelle der Worte,
nicht nur ein gekrakelter Strich zu sehen ist,
wenn ich die Augen wieder geöffnet haben werde.

Es ist, als ob ich alles,
was ich tue,
noch einmal von außen betrachten
und überprüfen muss,
während ich es tue.

Nur noch das Wenigste gelingt so nebenbei,
wie Fahrradfahren,
Gitarrespielen
oder…
Das ist so anstrengend!
Und es ist nicht leicht zu erklären –
dass mich etwas, was ich eben noch problemlos geschafft habe,
im nächsten Moment total überfordert.

Wie soll man das auch verstehen,
wenn man das nicht erlebt?

[ATMO: Karaokeparty]

PARTNERIN 2:
Nein, komm?
Echt jetzt?
Mit dir kann man nirgendwo hingehen.

ER:
Doch.
Das geht.
Nur halt nicht immer.

PARTNERIN 2:
Mir reicht das jetzt.

ER:
Liste der Dinge, die nicht mehr so wichtig sind:
Erwartungen erfüllen um jeden Preis.
Auf Partys zu den letzten Gästen gehören.
Bei Konzerten ganz vorne an der Bühne stehen.
Bei allen beliebt sein.
Keine Schwächen zeigen.

Ein paar meiner Freunde
haben mir übel genommen,
wenn ich mich eine Weile nicht gemeldet habe.
Die meisten haben das aber dann irgendwann verstanden.
Wenn auch nicht alle.

Heute versuche ich,
keine Versprechen mehr zu geben,
die ich möglicherweise nicht einhalten kann.

Das gelingt mir noch immer nicht wirklich gut.

(schreibt)
LISTE DER DINGE, DIE NOCH ZU VERBESSERN SIND

(Stille)

Ich habe mir Wanderschuhe und einen Rucksack gekauft.

[ATMO: Rückblick/Erinnerung]

SIE:
Siehst du das Kloster dort auf dem Berg?
Von da aus kann man sicher
sehr weit ins Tal schauen.
Was meinst du?

ER:
Ich weiß nicht,
ob ich das schaffe.

SIE:
Lass es uns einfach probieren.

[ATMO: Wald, Campingplatz]

ER:
Die saß da einfach so
mitten auf dem Weg.
Beinahe wäre ich aus Versehen
drauf getreten.
Ich hatte vorher noch nie
eine Gottesanbeterin gesehen.
Und du hattest Recht.
Wir konnten das ganze Tal überblicken.

Natürlich sind da noch andere,
mit ähnlichen Problemen.
Ich bin ihnen lange aus dem Weg gegangen.
Das tue ich heute nicht mehr.

(summt die Refrain-Melodie von „Shake the Disease“)

Understand me …

Die meisten sind älter als ich –
am Ende ihres Berufslebens.

Was konnten die schon wissen,
darüber, wie es einem geht,
der so ist, wie ich –
dachte ich.
Aber das war ein Irrtum.

Anfangs dachte ich,
ich könnte denen helfen
und drängte ihnen ungefragt Ratschläge auf.

Dabei hätte ich eigentlich wissen müssen,
dass jemand wie ich
denen, die glauben,
besser zu wissen,
was uns hilft,
als wir selbst,
besser aus dem Weg geht.

Schlimmer noch sind die,
die glauben, sie wüssten,
wie wir sind.

Die mit der Menschenkenntnis
sind die Schlimmsten.

Ich fühlte mich wohler,
wenn ich auf der Seite
der Helfenden war.
Ich wollte nicht sehen,
dass ich selber Hilfe brauchte.

Ich traf dann mit der Zeit
auch auf Andere,
die so sind wie ich.
Die noch jung waren,
als es bei ihnen anfing.

ARZT 1:
Es beginnt meist
zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr,
trifft mehr Männer als Frauen.

ER:
Einer ist Koch gewesen von Beruf.
Der hat seinen Geruchssinn verloren.

Jeder Parkinson ist anders.

(Näher kommende Schritte. Flip-Flops auf Kies.)

Ich bin kein Einzelstück.
Ebensowenig wie die Gottesanbeterin,
die Kröte
oder das Wildschwein.

(schreibt)
Liste der Dinge, die das Leben schön machen:
Unter den Sternen schlafen.
Musik.

(Die Person mit den Flip-Flops geht vorbei)

CAMPER:
(freundlich)
Bon jour!

ER:
Bon jour.
(Die Schritte entfernen sich wieder)

(schreibt)
Begegnungen.

(In der Nähe baut jemand unter Schwierigkeiten ein Zelt auf. Zeltstangen werden zusammen gesteckt, Zeltheringe in den steinigen Boden geschlagen, leises Fluchen o.ä.)

Ich habe mich an vieles gewöhnt.
Manches, von dem ich dachte,
ich würde es nie wieder können,
geht doch noch –
oder wieder.
Für vieles habe ich Strategien gefunden,
es trotzdem zu schaffen.
Das ist oft leichter, als ich dachte.

Ich will nicht aufhören,
zu lernen
und mich immer wieder
der Strömung entgegenstellen.

Ich habe gelernt,
die Grenzen zu verschieben.

Ich werde nicht aufgeben.

Ich messe und vergleiche mich aber nicht mehr so oft
mit den Anderen –
mit denen ohne Parkinson.

(In der Nähe wird noch immer ein Zelt aufgebaut)

Ein Zelt auf- und abbauen kann ich immer noch ganz gut.

Woran ich mich nur schwer gewöhnen kann,
ist, jeden Tag neu herausfinden zu müssen,
was ich kann
und was nicht.
Und wie lange es noch geht.
Das macht mich manchmal traurig.
Ich schaue aber nicht mehr so oft zurück
und trauere nicht mehr über das,
was gewesen ist.
Ich bin dankbar für das,
was ist.
Jeder Tag ist ein Geschenk.

[ATMO: Das Rauschen des Wassers geht in Applaus (z.B. in einem Theater) über]

Ich bin so froh,
dass du nicht aufgegeben hast,
dass du mich,
wenn du etwas mit mir unternehmen willst
und ich nicht kann,
immer noch ein zweites
und manchmal auch ein drittes Mal fragst.

Ich würde mit Niemandem tauschen wollen.

(schreibt)
Kein Einzelstück sein.

Wir sind auf unserer Hochzeitsreise.
Seit sieben Wochen liegen wir
jetzt schon jede Nacht unter den Sternen.

Und heute ist das Ende der Saison.

Aber noch lange nicht das Ende unserer Reise.

– ENDE –