Ich weiß noch: Seine Pranke hatte mich getroffen wie ein Schmiedehammer. Zumindest glaube ich, mich an eine große, kräftige Hand erinnern zu können, die mit Wucht auf meiner rechten Schulter gelandet war. Und ich erinnere mich an den strengen Blick des Rockers, der sich mir in den Weg gestellt hatte, als ich mir mit ein paar Bechern Bier den Weg durch die Menge – zurück in den Backstagebereich – bahnte.
„Ey“, hatte der Rocker gesagt. „Du bist doch einer von diesen blonden Jungs?“. Leugnen wäre zwecklos gewesen, schließlich hatte er mich kurz zuvor noch auf der Bühne gesehen. „Wir heißen ‚Die Blonden Burschen’“, antwortete ich. Die Hand des Rockers lag noch immer schwer auf meiner Schulter und hinderte mich am weitergehen. „Jungs, ihr seid richtig scheiße“. Sein Blick verlor das Bedrohliche und ich erkannte plötzlich so etwas wie Respekt in seinen Augen. „Dass ihr euch das traut“, sagte er und nahm endlich das Gewicht von meiner Schulter. Dann boxte er mir noch lächelnd auf den Oberarm und ich begriff, dass das wohl anerkennend gemeint war. Ich verschütte mein Bier. Die Umbaupause war vorbei. Auf der Bühne begannen die zwölf Musiker der „Testers“ ihre Show und es wurde Zeit, dass ich zurück zu den anderen kam.
So ist es gewesen. Zumindest erinnere ich mich daran, dass es so gewesen ist. Es war irgendwann am Anfang der 1990er Jahre auf einem Festival, das der Kölner AStA für die Erstsemester veranstaltet hatte. Vor uns hatten „Tass Kaff“ gespielt und nach uns die „Testers“ aus Berlin. Backstage gab es Erdbeeren und nach dem Konzert tranken wir Bier mit den Berlinern in ihrem zum Bandfahrzeug umgebauten Omnibus. Wir fühlten uns wie Popstars und ich war beim Bier holen zum Ritter geschlagen worden. Wir waren, unserem Bandmotto gemäß, „geschmacklos, langweilig, peinlich“. Wir waren „Die Blonden Burschen“.
Die Burschen, das waren in erster Linie Belcanto Bene und ich. Damals, beim AStA-Festival, hatten noch Peter Tusch als Bassist und Wolfgang ‚Berserker‘ Smirnov als Leibwächter mit uns auf der Bühne gestanden. Hinter dem Schlagzeug saß an diesem Abend als Gast Gisbert Lemke, der sonst für die Hertener Band „Fantasma Desnuda“ trommelte. Im Laufe der fast zwanzigjährigen Geschichte der „Blonden Burschen“ haben noch viele andere unseren Weg als Bandmitglieder oder Gäste eine Zeit lang begleitet.
Die Veranstalter des AStA-Festivals hatten uns eingeladen, nachdem sie uns bei der Talentprobe am Kölner Tanzbrunnen gesehen hatten. Hier hatte viele Jahre zuvor bereits die spätere European-Song-Contest-Gewinnerin Nicole Seibert vor Deutschlands angeblich härtestem Publikum bestanden. Wir hatten uns deshalb für unseren ersten Auftritt dort den Nicole-Hit „Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund“ als eines von zwei Liedern ausgesucht. Wir sangen es so schön, wie wir konnten und ich schmuste dabei mit einer gelben, aufblasbaren Gummiente. Die mehr als dreitausend Zuhörer waren gekommen, um die auftretenden Talente scheiße zu finden und sie bekamen von uns, was sie haben wollten. Ein Teil der Meute drehte uns den Rücken zu, andere riefen „Ausziehen!“ oder „Aufhören!“ und ich meine, mich erinnern zu können, dass das ein oder andere sehr reife Stück Obst auf die Bühne flog. Als wir dann unser zweites Lied sangen, eine Eigenkomposition namens „Hochverehrtes Publikum“, geschah etwas unglaubliches. Zumindest glaube ich, mich daran erinnern zu können, dass es geschah. Irgendwie so muss es gewesen sein: Die wilde Meute vor uns hörte auf, uns mit Rufen wie „Hühnerbrust!“ beleidigen zu wollen (Belcanto Bene hatte die Bühne mit den Worten „Guten Tag, ich bin der zweidimensionale Mann“ betreten und auch ich war nicht gerade ein Athlet). Sie hörten uns zu. Und dann sangen sie tatsächlich unseren Refrain mit:
„Ihr seid so zum Kotzen, oh wir halten’s gar nicht aus. Ihr seid so banal, warum bleibt ihr nicht zuhaus‘. Ihr seid wirklich der allerletzte Dreck. Doch bleibt ruhig da, denn ihr seid unser Lebenszweck.“
Beim ersten Mal hatten wir uns aus einer Laune heraus um die Teilnahme an der Talentprobe beworben und an einem vorherigen Casting teilgenommen. In den folgenden zwei Sommern wurden wir – soweit ich mich erinnern kann – vom Veranstalter eingeladen, so dass wir insgesamt drei Mal vor dem härtesten Publikum Deutschlands aufgetreten sind. Jedes Mal spielten wir als zweiten Titel unser „Hochverehrtes Publikum“. Dabei wurden wir von unserem Leibwächter Smirnov unterstützt, der mal aus einer hölzernen Torte sprang und mal frische Kirschen ins Publikum warf. Nach unseren Auftritten verteilten wir Autogrammkarten, die nicht uns, sondern ein paar bärtige Männer aus einem Tätowiermagazin zeigten. Den ersten Platz des Talentwettbewerbs belegten wir nie. Zumindest daran erinnere ich mich ganz genau.
Belcanto Bene und ich hatten schon immer gerne zusammen gesungen. Bereits in der Schule haben wir unsere Mitschülerinnen mit A-Capella-Vorträgen umgetexteter Pop-Hits („Desiré, du hast gelbe Beine“) erfolgreich zu beeindrucken versucht. Anlässlich unserer Abiturfeierlichkeiten haben wir dann ein Lied für unsere Deutschlehrerin geschrieben, das wir zur Gitarre vortrugen.
„Sowohl in Deutsch, als auch in Literatur, dachten wir an unsere Lehrerin nur. Sie war so modisch angezogen. Darum haben wir sie nie belogen. (…)“
Kurz darauf gründeten wir die Band, die wir ursprünglich „Die singenden und tanzenden Wixvorlagen“ nannten. Wenig später entschieden wir uns für den öffentlichkeitstauglicheren Namen „Die Blonden Burschen“. Die Band waren wir beide. Gemeinsam schrieben wir Texte über Themen, die uns gerade im Kopf herum gingen, wie teuren, schlechten Kuchen oder darüber, wie wir uns das Leben als Popstar vorstellten. Ich reihte ein paar Akkorde aneinander und begleitete uns auf der Gitarre. Selten brauchten wir länger als fünf Minuten für die Fertigstellung unserer Lieder, die wir dann meist auf privaten Parties vortrugen. In meiner Erinnerung kommt es mir so vor, als wären es manchmal sogar mehrere Parties an einem Tag gewesen.
Um mehr Partyeinladungen zu bekommen, erfanden wir die Aktion „Schick uns Deinen Slip“. Wir verteilten selbstgedruckte Postkarten als Aufforderung, uns zum Musizieren gegen freies Essen und Trinken einzuladen. Die Teilnahme an der Aktion war, wie der Name schon verrät, an die gleichzeitige Einsendung einer Unterhose gebunden. Dass wir darauf hin tatsächlich zahlreiche, teils getragene oder kunstvoll gestaltete Wäschestücke zugeschickt bekamen, hat uns sehr überrascht.
In einem Kölner Tonstudio, in dem ich damals als Teaboy arbeitete, nahmen wir unsere ersten Demos auf. Einmal kam Belcanto Bene in Begleitung einer Gruppe junger Mädchen zu den Aufnahmen. Als „Chor der minderjährigen Mädchen“ sind sie noch heute auf unserer CD „Die Blonden Burschen von A bis Z. Die (ersten) zehn Jahre“ zu hören. Wir bekamen Einladungen zu Auftritten in Berlin, Stuttgart, Münster, Dortmund und anderen Städten. Wir spielten bei Hochzeiten und Geburtstagen, Wurden vom lokalen Radiosender interviewt und verschwendeten unsere Jugend mit Legendenbildung und zu vielen Proben. Mitmusiker kamen und gingen. Die meisten konnten jedoch mit unserem Motto „Geschmacklos, langweilig, peinlich“ auf die Dauer nicht viel anfangen. Ein Bassist, den wir kurz zuvor in einer Kneipe angesprochen hatten, ging während eines Konzerts in Köln „Zigarettenholen“ und kam nie wieder zurück. Ich weiß bis heute nicht seinen Namen. Ich erinnere mich aber, dass ich mich damals gewundert hatte, dass er zum Zigaretten holen seinen Bass mitnahm. Und ich erinnere mich, dass sowohl wir, als auch das Publikum bei diesem Konzert froh waren, dass wir nicht mehr weiter spielen konnten. Das Showgeschäft war manchmal auch für uns ein hartes. Der Einzige, der wirklich lange dabei geblieben ist, war unser Leibwächter Smirnov. In seiner Rechtsanwaltskanzlei in Köln steht vermutlich auch noch heute ein staubiger Karton voller Slips.
Bei unseren späteren Auftritten bemühten wir uns, dem Publikum neben unserer Musik noch weitere Unterhaltungselemente zu bieten. Wir zeigten Dias, verlosten unnütze Sachen, liessen Smirnov strippen und Belcanto Bene machte es sich zur Gewohnheit, bei jedem Konzert einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten. Bei unserem Auftritt im Bochumer Schauspielhaus hatten wir uns vorgenommen, nicht eher von der Bühne zu gehen, bis der letzte Gast gegangen war. Bene nutze die Gelegenheit, die Anwesenden ausführlich und mit vielen Schautafeln und Statistik-Kurven über seine empirisch gewonnenen Erkenntnisse über die Luftigkeit von Schokoladencroissants (Cornus Cacaonis) verschiedenen Alters aufzuklären. So etwas macht er auch heute noch bei seinen Solo-Auftritten. Nur, dass er nicht mehr zwischendurch singt. Das Konzert in Bochum wurde dann übrigens nach dreieinhalb Stunden vorzeitig durch den Protest des Garderobenpersonals beendet. Die wollten endlich nach hause. Zumindest erinnere ich mich so. Dann wird es wohl auch so gewesen sein.
Klaus Fehling (2009)
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