Auf’m Amt – eine wahre Geschichte

Der Morgen, an dem alles geschah, liegt noch nicht allzulange zurück. Freund E. war zu Besuch und wir frühstückten in unseren Flohmarktbademänteln auf dem Balkon. Mein kleiner Hund, den ich erst kurz zuvor auf den Namen “Käsebrot” getauft hatte, sprang fröhlich um uns herum und kläffte manchmal heiser.

Freund E. hatte die Augen noch geschlossen. Er öffnete sie gewöhnlich erst nach der zweiten Tasse Kaffee. In der Regel verschüttete er die erste fast vollständig auf meinem flauschigen Küchenteppich, was ich gewöhnlich mit dem Ausruf: “Lieber Freund E.! Du bist mir vielleicht ‘ne Marke” quittierte. Und genau DA begann die Geschichte:

“Ch….”, sagte Freund E., als er die Augen öffnete. Ich hielt seine Kaffeetasse schon in der Hand, wollte ihm gerade servieren. Doch er öffnete die Augen bevor er auch nur einen Schluck davon genommen hatte. “Wie bitte?”, fragte ich ihn. “Ich…”, er schloß die Augen wieder für einen kurzen Moment, “Ich…”

Er stotterte. Selbst mein kleiner Hund “Käsebrot” hielt den Kopf leicht schräg, stellte seine Ohren auf und wartete auf das, was jetzt zu sagen war, DERSÜSSEKLEINERACKER.

Ich verschüttete den Kaffee aus der Tasse von Freund E., die ich noch immer in der Hand hielt. Gewöhnlich wäre nun der rechte Moment gewesen, so etwas zu sagen wie: “Verfickte Scheiße! Ich bin mir vielleicht ‘ne Marke.”, aber ich unterließ es und murmelte nur ein kurzes “Schweineficken” in mich hinein. Freund E. war verzweifelt, das war jetzt klar. Und es galt herauszufinden, was ihn anficht. Ich rechnete mit allem. War des Freundes Verhalten nicht zunehmend merkwürdig geworden in der letzten Zeit? Er trieb einem Zustand in die Arme, den mancher gerne als “freudloses Dahinvegetieren” bezeichnen mag. Ich sage “Depression” dazu. Als er sein Anliegen dann vortrug, war ich nicht mehr sehr überrascht. Er sagte: “Ich bringe mich um.”, schwieg dann und wartete meine Reaktion ab. Ich kann, wenn ich will, ein stahlharter Bursche sein. Ich zeigte mein bestes Pokergesicht. Ich dachte jedoch: “Hoffentlich will er es nicht hier tun. Kaffeeflecken im Teppich ist das eine, das geht noch, aber Blut? Das ist etwas anderes. Das geht nie wieder raus.”. Er sah mich an, rammte sein Hände tief in die Taschen des ausgeblichenen Flohmarktbademantels, schob die Unterlippe ein bißchen nach vorn und sagte: “Hat keinen Sinn mehr. Da bring ich mich lieber um.” Der kleine Hund “Käsebrot” hatte das interesse an der Sache verloren und verlegte sich wieder aufs manchmal heiser ‘rumkläffen. MANCHMALMÖCHTEMANIHNEINFACHKNUDDELN.

“Wann? Heute etwa?”, fagte ich den Freund. “Warum nicht? Wozu noch lange warten?”, fragte der zurück. Ich dachte nach. Warum sollte er warten? Es gab nur einen Grund: Es war Sonntag.

“Du darfst nicht”, wandte ich ein, “Du hast keine Suizidgenehmigung.” Der kleine Hund “Käsebrot” kläffte heiser. Ich wiederholte: “Suizidgenehmigung. Hast keine.” Ich nahm ein großes Fleischermesser in die Hand. Gegen die Nervosität. Ich hatte schon vor einiger Zeit das Rauchen aufgegeben. “Ist Sonntag. Da kriegste auch keine.”

Freund E. nickte verständnisvoll mit dem Kopf. “Aber du wirst mir doch eine besorgen können. Du hast doch Beziehungen. Bitte schaff mir eine Suizidgenehmigung ‘ran”, sagte er. Ich wollte gerade widersprechen, daß das aber vor kommendem Dienstag nicht mehr klappen würde und daß meine Beziehungen zum Amt 42 rein sexueller Natur seien und außerdem dort keine Suizidgenehmigungen ausgestellt werden, als “Käsebrot” wieder kläffte. Ich drehte das Fleischermasser zwischen meinen Fingern. “Käsebrot” kläffte. Ich bemerkte, wie alle Gedanken meinen Schädel verließen. Sie flossen heraus, durch ein kleines Loch in der hinteren Schädelgrube. Der Stöpsel mußte sich glöst haben. Ich sah auf den Teppich in der Erwartung, daß dort die Gedanken als gelblich-grüner Sabber eine Fleck ergeben würden. “Käsebrot” kläffte. Auf dem Teppich waren nur die Kaffeeflecken. “Käsebrot” kläffte. Eine Bewegung. Ein weiterer Fleck UNDHUNDEBLUTISTGARNICHTVIELDUNKLERALSMENSCHENBLUT.

Freund E. besah sich die Schweinerei auf dem Teppich und zog eine Augenbraue hoch.

“Du mußt dich beraten lassen.”, sagte ich, “Ohne den Nachweis einer Beratung bekommst du keine Suizidgenehmigung. Außerdem ist Sonntag.”

“Scheiß was auf Sonntag!”, rief Freund E., “Ich will mir das Leben nehmen. Da interessiert es mich nicht, welchen verfickten Wochentag wir haben!”

“Schon gut. Das verstehe ich ja”, verstand ich, “aber ohne Beratungsschein darfste dich nicht umbringen. So leid es mir tut.” “Dann besorg mir dieses verfickte Scheißteil von einem Beratungsschein!”, schrie er. “Ich will mich umbringen! Ich will! Und du? Du bist mein Freund! Das bist du doch, oder? Also mach dich nützlich und BESORG MIR SO EINEN LAPPEN DAMIT ICH MICH ENDLICH UMBRINGEN KANN!” Ich blickte zu Boden. Der kleine Hund “Käsebrot” war jetzt fast ganz ausgeblutet. Sein Kadaver würde bestimmt bald die Fliegen anziehen. Dieser kleine Hund. SELBSTALSSTÜCKFLEISCHGINGERMIRNOCHAUFDIENERVEN!

Freund E. sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er schwieg. “Na schön.”, sagte ich, “du wirst ja vorher doch keine Ruhe geben. Also werde ich mein Bestes versuchen. Ich fürchte nur, daß das nicht genügen wird. Gib mir mal den Korb mit den Brötchen!” Freund E. reichte mir den Korb. Ich nahm eine Semmel heraus, brach sie auseinander, hielt mir eine Hälfte ans Ohr und die andere vor den Mund. “Hallo?” Ich wartete einen Moment. “Räusper.”, sagte ich. Im Brötchen meldete sich eine Trockene Frauenstimme: “Ja bitte?” Ich stellte mich höflich vor und fragte, ob ich wirklich mit dem Amt für Existenzrelevante Fragen verbunden sei. “Ja. So ist es. Bitte warten Sie einen Moment, Herr…” und wieder tutete es im Brötchen. Freund E. sah mich die ganze Zeit sehr verstört an. Ich nickte ihm zu und machte mein “Es ist alles in Ordnung, keine Sorge”-Gesicht. Es tutete im Brötchen. “WAS zum Heck machst du da mit dem Frühstückgebäck?”, fragte Freund E. Ich antwortete wahrheitsgemäß: “Ich telefoniere mit dem Amt für…” Eine Stimme im Brötchen unterbrach mich. “Existenzfragen. Abteilung IV.”, sagte die trockenen Frauenstimme. “Sind Sie noch dran, Herr…” “Ja. Ich bin.”, sagte ich rasch. “Warten Sie bitte…” Es tutete im Brötchen. Freund E. starrte mich weiter an, als wäre ich verrückt. Dabei versuchte ich doch bloß zu telefonieren. Mit dem Amt für… “Existenzfragen. Womit kann ich Ihnen helfen?”, sprach die gleiche trockene Frauenstimme zu mir. “Ich brauche, ich meine WIR brauchen, also eigentlich ER braucht eine Suizidgenehmigung. Bin ich da bei Ihnen richtig?”, fragte ich. “Suizidgenehmigung. So. Dafür ist Abteilung VI, ‘S-Z’ zuständig. Ich versuche mal zu verbinden.” Es tutete im Brötchen. Freund E. nahm sich einen Kaffee. Eine erste Fliege ließ sich auf der Leiche des kleinen Hundes “Käsebrot” nieder. Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Ein Auto fuhr vorbei. Ich der Provence schlüpfte ein seltener Flamingofalter aus seiner Puppenhülle und wurde von einem vorbeifliegenden Vogel verspeist. Ich trommelte mit meinen Fingern auf der Tischplatte. Freund E. summte vor sich hin. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, summte er die Internationale. Ich wartete darauf, daß sich jemand vom Amt für… “Existenzfragen. Abteilung VI, ‘S-Z’. Sie brauchen eine Suizidgenehmigung? So einfach wie Sie sich das vorstellen ist das aber nicht. Haben Sie denn einen Beratungsschein?”, meldetet sich, ich könnte schwören, die gleiche trockene Frauenstimme.

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