Für den Schauspieler Murat Belcant war die Arbeit mit uns die Erste seit dem Zwischenfall in Texas, wo er wenige Jahre zuvor mit einem Einpersonenstück, das er selbst geschrieben hatte, auf seiner Gastspielreise durch die USA Station gemacht hatte. Das Stück hieß „Be My Baby“ und hatte den Belgischen Kinderschänder Marc Dutroux zum Thema. So etwas hatte man in Texas nicht sehen wollen. Unbekannte hatten die Garderobe des Schauspielers in Brand gesteckt und damit nicht nur alle Requisiten, sondern auch Murat Belcants Mut zunichte gemacht. Belcant war damals zwar mit einem Schrecken davon gekommen, dachte aber, er könne nie wieder auf die Bühne gehen.
Dass er jetzt – wenige Jahre später – doch wieder vor Theaterpublikum stand, lag nicht zuletzt an der Rolle, die wir ihm angeboten hatten. Murat Belcant spielte einen jungen deutschen Kriminalbiologen, der auf dem Weg zum Popstar ist. Es war ein Stück über das Spannungsverhältnis zwischen Medienimage und privater wissenschaftlicher Motivation. Der Schauspieler hatte unser Angebot nicht ablehnen können. Wer, außer ihm, hätte den jungen Wissenschaftler sonst spielen können? Es war eine Rolle, die Murat Belcant auf den Leib geschrieben schien. Wenn er hier im Laborkittel vor jungem, aufgeschlossenem Publikum stehen und über die faszinierenden Rätsel des Lebens und des Sterbens sprechen konnte, war er ganz in seinem Element.
Das Stück, das Murat Belcant spielte, war unterteilt in 23 Einzelbilder. Am vorderen Bühnenrand waren ebenso viele weiße Schachteln aufgereiht, die jeweils mit einem Schlagwort beschriftet waren. Auf der Ersten stand „Dogma“ und auf der Letzten stand „Applaus“. Im Laufe des Stücks öffnete der Wissenschaftler eine Schachtel nach der anderen und entnahm die Requisiten für die jeweilige Szene. Die Schachteln enthielten alltägliche, aber auch seltsame Dinge, wie ein rohes Ei, ein Stück Fleisch oder eine Schale voller lebender Mehlwürmer. Im Hintergrund waren auf einer Leinwand Videobilder von Blattschneideameisen oder Liveaufnahmen vom Präparationstisch des Wissenschaftlers auf der Bühne zu sehen. Und immer wieder auch Ausschnitte aus Fernsehbeiträgen, in denen stets der selbe junge Kriminalbiologe in Talkshows, Interviews oder bei der Arbeit im Labor zu sehen war.
Diesen jungen Kriminalbiologen, den die Fernsehbilder zeigten, gibt es wirklich. Von ihm erzählt das Theaterstück „The Real Forensic“, in dem der Schauspieler Murat Belcant die Rolle seines Lebens spielte.
Der Regisseur Max Schumacher wirkt auf den ersten Blick selber wie ein Schauspieler. Der eloquente Theaterprofi versteht es gut, sich und seine Arbeit zu vermarkten und liebt es, über seine Ideen zu sprechen. Dabei legt er Wert darauf, seine Konzepte in möglichst effektvollen Bildern zu schildern. Als ich ihn zum ersten Mal traf, bereitete er sich gerade auf seinen Abschluss in Performance Studies an der New York University vor. Hier in New York hatte er, der Sohn eines Kölner Holzhändlers, kurz zuvor sein „post theater“ gegründet, ein Theater ohne feste Spielstätte und ohne festes Ensemble. Unter diesem Label hatte der mittzwanzigjährige bereits ein paar bemerkenswerte Performanceprojekte im Grenzbereich zwischen Schauspiel, Multimedia und DJ-Kultur realisiert.
1998 war ich für zehn Tage zu Besuch in New York bei meinem Freund Mark, der hier am Gerichtsmedizinischen Institut arbeitete. Mark und Max kannten sich schon seit der Schulzeit in Köln und hatten sich nach langer Zeit in New York wieder getroffen, wo sie sich regelmäßig sahen. Die beiden führten mich durch „ihre“ Stadt, unter anderem in ein kleines Off-Theater mit wenigen Sitzplätzen, wo wir einer Werbeverkaufsveranstaltung für Peitschensets und anderen Sado-Maso-Bedarf beiwohnten. „The Eulenspiegel Society“, eine der ältesten amerikanischen BDSM-Vereinigungen, hatte zum Tag der offenen Tür geladen. New York City war eine aufregende Stadt. Max Schumacher und ich sprachen sehr viel über Theater und entdeckten viele Gemeinsamkeiten in unseren Zielsetzungen und Arbeitsweisen.
Mark hatte zu dieser Zeit gerade mit seiner Arbeit als Kriminalbiologe für öffentliches Aufsehen gesorgt. Ein von ihm gefertigtes Gutachten über die Leichenliegezeit im Fall einer getöteten Pastorengattin hatte ergeben, dass der verdächtige Ehemann kein Alibi für die Tatzeit hatte, was schließlich zu dessen Verurteilung führte. Die entscheidenden Hinweise hatten dem Kriminalbiologen die Insekten geliefert, darunter eine tote Ameise an einem Gummistiefel des Pastors. Die Medien begannen, sich für den jungen Wissenschaftler aus Deutschland zu interessieren, und er bekam jetzt häufiger Besuch von Journalisten und Kamerateams. Die Achte der 23 Schachteln, aus denen Murat Belcant später seine Requisiten entnehmen sollte, bekam den Titel „Gummistiefel“.
Eine der Ideen, von denen mir Max Schumacher im Laufe der Zeit immer wieder begeistert erzählte, war, ein Theaterstück über den echten Kriminalbiologen zu machen. Das Stück sollte den Titel „The Real Forensic“ tragen und wir einigten uns bald darauf, dass ich die Textvorlage dazu liefern sollte.
Ich montierte das Script zu großen Teilen aus Texten von und über den echten Kriminalbiologen. Als Quellen dienten mir Gutachten, Interviews, Artikel, wissenschaftliche Aufsätze und auch die Bücher, die mein Freund Mark bisher geschrieben hatte. Der Rest bestand aus eigenem oder fremden Material, wie den Texten von Liedern, die er zu dieser Zeit mochte. Eines davon war „Yü-Gung“ von der Band „Einstürzende Neubauten“:
„Ich bin 6 Meter groß und alles ist wichtig. Ich bin 9 Meter groß und alles ist mehr als wichtig. Ich bin 12 Meter groß und alles ist unvorstellbar. Fütter mein Ego, fütter mein Ego!“
Musik spielte eine nicht unwesentliche Rolle für „The Real Forensic“. Der Musiker Hannes Adrian Meder, alias „DJ Disko“, der später auch für „Die Blonden Burschen“ arbeitete, lieferte einen dicht gewobenen Soundtrack zum Stück. Um uns fachlich abzusichern, zogen wir Mark als wissenschaftlichen Berater hinzu. Als Schauspieler, das wussten wir, kam nur ein einziger in Frage: der marokkanischstämmige Deutschbelgier Murat Belcant. Wir kannten ihn beide persönlich und brauchten nicht lange, um ihn zu überreden.
Im Frühling des Jahres 2000 trafen wir uns alle in Köln. Als Proberaum diente uns ein Seminarraum im biologischen Institut der Universität. Die junge Filmemacherin Sandra Hacker drehte zu dieser Zeit gerade einen Dokumentarfilm über Mark und besuchte uns mit ihrem Team ab und zu bei den Proben.
Die Uraufführung war im Juni 2000 im Kölner „Gebäude 9“, einer kleinen, zum Theater und Konzertraum umfunktionierten Fabrikhalle. Ich kannte diesen Ort bereits seit ein paar Jahren als Besucher von Parties und Konzerten. In den letzten Jahren hatte sich das „Gebäude 9“, wo Mark und ich einst gemeinsam neugierig die „Lunatics Ball“ Gothic-Parties besucht hatten, zu einer beliebten Spielstätte für freie Theaterproduktionen gemausert. Hier stand Murat Belcant als „The Real Forensic“ zum ersten Mal seit Texas wieder vor Publikum.
Nach der Uraufführung in Köln folgten Festivaleinladungen nach Berlin und Singapur. Für die Vorstellungen in Asien haben wir eine veränderte Textfassung unter dem Titel „The Real Forensic Overseas“ angefertigt, in der es neben unserem echten Kriminalbiologen auch um Chao Tzee Cheng, einen prominenten Rechtsmediziner aus Singapur ging.
Der PR-bewusste Max Schumacher hatte in seiner Öffentlichkeitsarbeit eine Soloperformance über „Blut, Sperma, Fliegen und ihre Maden, die durch verwesendes Fleisch kriechen“ angekündigt, was die Festivalveranstalter in Berlin dazu veranlasste, den Eintritt nur für Erwachsene zuzulassen. Das Medieninteresse war groß. Im Vorfeld der Aufführungen gab es viele Anfragen von Journalisten, die nicht nur unseren wissenschaftlichen Berater Mark Benecke („Dr. Made wird Theaterstar“), sondern auch den Schauspieler Murat Belcant interviewen wollten. Dieser hatte immerhin, wie sein von uns im Programmheft abgedruckter Lebenslauf verriet, bereits Nebenrollen in den Kinofilmen „Die Hard 2“, „Waterworld“ und „Eyes Wide Shut“ gespielt und war von der Fritz-Lang-Stiftung als bester deutschsprachiger Nebendarsteller Hollywoods ausgezeichnet worden.
In einem Interview wurde er gefragt, ob es nicht sehr aufwändig gewesen sei, die im Stück verwendeten Fernsehbeiträge über den echten Kriminalbiologen mit ihm als Schauspieler nachzustellen. Die Antwort darauf wäre ganz einfach gewesen. Murat Belcant konnte diese Antwort aber nicht geben. Der Grund dafür ist so nahe liegend, dass ihn damals fast niemand glauben wollte: Die Videos zeigten genau den, der auch auf der Bühne stand. Sie zeigten den Kriminalbiologen Mark Benecke. Und den gibt es, anders als den Schauspieler Murat Belcant, wirklich.
Ein weiterer Text von Klaus Fehling über Mark Benecke und die Band „Die Blonden Burschen“ ist in diesem Buch zu finden.