Geheime Kommandosache

Die Erde hatte sogar hier im Supermarkt gebebt. Es muss eine gewaltige Explosion gegeben haben, die alles vernichtet haben dürfte: Das Haus, die Küche und auch den Soldaten.

Wann er gekommen ist, weiß ich heute nicht mehr. Die Erinnerung an die Zeit davor ist von hier aus nur noch als blasse, unzuverlässige Abbildung abrufbar – wie Bilder aus einem fremden Fotoalbum. Ich erinnere mich aber genau an einen Geruch von Maschinenöl, der wochenlang aus den Möbeln zu kommen schien. Ich hatte es zuerst bemerkt. Erst Wochen später, als ich den Gestank schon kaum mehr aushalten konnte, hatte auch meine Frau ihn wahrgenommen. Sofort ließ sie mich die vielen Bücher aus den Regalen nehmen, die Möbel von den Wänden abrücken und ich musste sogar unter dem Velours nach der Quelle des Ölgeruchs suchen. Schließlich einigten wir uns darauf, dass es von draußen durch die Fenster oder durch die Abflussrohre kommen musste, und gaben die Suche auf. Erst dann entdeckte ich den Fleck. Auf dem Küchentisch fand ich eine große schwarze Lache aus Öl, in dem winzige Metallspäne glitzerten. Der Fleck ließ sich trotz aller meiner Bemühungen nicht vollständig entfernen – das Öl war längst in das Holz des Küchentischs eingezogen. Als meine Frau an diesem Tag spät abends von ihrer Arbeit nach hause kam, verlangte sie eine Erklärung von mir und tat sich eine ganze Weile schwer damit, dass ich keine hatte.

Einige Tage später saß dann morgens ein Soldat am Küchentisch. Ein echter Soldat mit Uniform und Stahlhelm saß da. Sein Karabiner lehnte an der Tischkante und er war konzentriert damit beschäftigt seine Pistole zu reinigen. Der Soldat saß da, als gehöre er in diese Küche wie ein Möbelstück. Er schien mich nicht zu bemerken. Vielleicht ignorierte er mich auch. Erst als ich all meinen Mut zusammen genommen hatte und ihn ansprach, löste er seinen Blick von den Einzelteilen seiner Pistole, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte, und sah mich an. Dann sagte der Soldat nur ein einziges Wort: „Gekados“. Geheime Kommandosache. Draußen hatte längst das 21. Jahrhundert angefangen und in meiner Küche hatte ein Soldat eine geheime Kommandosache zu erledigen.

Eine Weile war er dann einfach nur da – wie eine Maus, die unter der Spüle wohnt. Wir sahen ihn anfangs mehr aus den Augenwinkeln, meist am Rande des Blickfelds. Wie ein scheues Tier verschwand er, als ob er sich in Luft auflösen würde, sobald wir ihn direkt fixierten. Doch unser feldgrauer Besucher war keine Maus. Es war ein bewaffneter Soldat – mit einer Pistole und Stabgranaten am Gürtel.

Der Soldat sprach nur selten. Und wenn er sprach, sprach er in knappen Sätzen und benutzte dabei oft Abkürzungen wie „Arko“, „Pak“ oder „zbV“ – Begriffe, die uns erst viel später etwas sagen sollten.

Nach ein paar Wochen hatten wir uns an den Soldaten gewöhnt. Meist saß er still in der Küche und putzte seine Stiefel oder zerlegte seine Waffen, um sie zu reinigen und dann ohne hin zu gucken wieder zusammen zu setzen. Manchmal – wenn er das besonders schnell geschafft hatte, konnten wir ihn lächeln sehen. Jeden Abend trank er schweigend ein großes Glas gelblichen Schnaps und rauchte eine stinkende, selbst gedrehte Zigarette. Oft hörten wir ihn nachts irgendwo in der Wohnung Lieder vom Wolgastrand singen, was uns aber nicht weiter störte. Auch der allgegenwärtige Maschinenölgeruch erschien uns nach einiger Zeit fast normal.

Als ich feststellte, dass der Soldat das Papier für seine Zigaretten aus den wertvollsten meiner antiquarischen Bücher gerissen hatte, beschloss ich, ihn genauer zu beobachten. Schnell bemerkte ich, dass er nicht nur seinen gelben Schnaps – und davon täglich immer mehr – trank, sondern sich auch an unseren besten Weinen bereits ausgiebig bedient hatte. Die leeren Flaschen hatte der Soldat mit Benzin gefüllt und im ganzen Haus versteckt. Im Keller fand ich in einem alten Kleiderschrank einen blauen, grob genähten Beutel mit Rasierzeug, eine Dose mit schwarzer Schuhcreme und ein Bündel Schwarzweißfotos, die eine mir unbekannte Frau mit Kittelschürze vor einem mir unbekannten Haus zeigten. Auf dem Dachboden hatte er aus der Wäschespinne eine Antenne gebaut, die er mit einem schwarzen Bakelitkasten verbunden hatte, an den wiederum ein einfacher hölzerner Morsetaster angeschlossen war. Das bot zumindest eine Erklärung für das schnelle unregelmäßige Klopfen, das meine Frau und ich manchmal nachts von oben gehört hatten. Der Soldat schien mit Hilfe unserer Wäschespinne mit irgendeiner Gegenstelle zu kommunizieren, von der er vermutlich neue Befehle erhielt, die eine mögliche Erklärung für die plötzlichen Änderungen in seinem Verhalten sein konnten.

Irgendwann hatte er angefangen, immer in der Nähe zu sein, wenn meine Frau und ich zusammen waren. Ganz gleich, ob wir miteinander redeten, aßen oder miteinander schliefen – der Soldat war immer da. Er saß da und tat so, als ob er uns gar nicht wahrnehmen würde und nur zufällig im selben Zimmer wäre. Dabei hantierte er immer mit irgendetwas – putzte seine Stiefel oder reinigte ein Werkzeug mit einem öligen Lappen. Meine Frau hatte damit größere Schwierigkeiten als ich. Mich störte die Anwesenheit des Soldaten kaum. Ich bemühte mich, sie zu überzeugen, dass es das beste wäre, ihn zu ignorieren. Aber der Soldat blieb. Und er tat etwas vollkommen unerwartetes: Er weinte.

Zuerst weinte der Soldat leise und fast ohne Tränen. Bald wurde aus seinem bis dahin noch kaum hörbar gewesenen Schluchzen ein lautes verzweifeltes Heulen. Ununterbrochen flossen Tränen über sein krampfhaft verzerrtes Gesicht, das schwarz verschmiert war, weil er es ab und zu mit seinem Öllappen abwischte. So folgte er uns heulend durch das ganze Haus, solange wir zusammen waren, und hörte nicht auf, bis meine Frau oder ich ohne den anderen den Raum verlassen hatten.

Außerhalb unseres Hauses sah ich den Soldaten nie. Wir hatten aber auch im Supermarkt oder auf der Straße das zermürbende Gefühl, von ihm beobachtet zu werden.

Meine Frau zog es dann vor, von nun an allein in ihrem Arbeitszimmer zu schlafen. Sie zog sich immer mehr zurück und wir sprachen kaum noch miteinander. Einmal wurde ich morgens um vier wieder vom Gesang des Soldaten geweckt. Er sang wieder seine Lieder vom Marschieren und von einem Kameraden, den er einmal hatte. Diesmal sang er jedoch lauter und aufgedrehter als sonst. Er schien sehr betrunken zu sein. Noch etwas war anders am Gesang dieser Nacht: Es war eine zweite, ebenfalls betrunken grölende Stimme zu hören: Die Stimme meiner Frau.

Am nächsten Tag schlief sie bis zum Mittag. Dann nahm sie eine Kopfschmerztablette, packte ihre Koffer und verließ mich, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Mit anderen konnte ich nicht darüber reden. Was hätte ich denn sagen sollen? Da lebt ein Soldat bei mir, der meine Frau überredet hat, mich zu verlassen? Der Soldat hatte meiner Frau die Augen geöffnet, erfuhr ich aus einen Brief, den sie für mich auf dem öligen Küchentisch zurückgelassen hatte. Was sie mit diesen geöffneten Augen dann gesehen haben will, das sie dazu gebracht haben könnte, zu gehen, schrieb sie nicht. Dafür erhielt ich weitere Informationen über meinen Mitbewohner. Er nannte sich Heinrich und gehörte einem Luftgau-Nachrichtenregiment an, wo er für die Instandhaltung der Kraftfahrzeuge zuständig war. Er sei erst vor kurzem zum Unteroffizier befördert worden und hielt es für erwähnenswert, dass in seinem Soldbuch hinter dem Namen seiner Einheit das Kürzel „zbV“ vermerkt war. Zur besonderen Verwendung. So hatte er es meiner Frau erklärt, die in ihrem Brief an mich auch noch berichtete, dass sie Heinrich „gar nicht unsympathisch“ fände.

In den darauf folgenden Wochen wurde der Soldat immer nachlässiger. Er hatte aufgehört, seine Ausrüstung zu pflegen, wodurch diese bald unbrauchbar wurde. Karabiner und Pistole verrosteten schnell und sahen bereits nach kurzer Zeit aus, als hätten sie jahrzehntelang in der Erde gelegen. Übrig blieben zwei lehmrote Klumpen, die in ihrer Form nur noch entfernt an die funktionstüchtigen Waffen erinnerten, die sie noch wenige Tage zuvor gewesen waren. Endlich musste der Soldat aufhören, mit seiner Pistole aus dem Küchenfenster auf Vögel und Katzen zu schießen. Überall ließ er seine Sachen herumliegen. Schraubenschlüssel, zerrissene Uniformteile und rostige Stabgranaten. Er war jetzt meist schon am Mittag betrunken. Am frühen Abend schlief er ein und ich hörte aus dem Wohnzimmer sein lautes Schnarchen. Ich zog mich dann in den anderen Teil der Wohnung zurück und versuchte, möglichst leise zu sein, um ihn nicht zu wecken. Die Zeit nutzte ich, um die herumliegenden Granaten einzusammeln und in einem Eimer Wasser vorsichtig unschädlich zu machen.

Bald kommandierte der Soldat mich immer mehr herum und ließ mich einfache Arbeiten für ihn verrichten. Jeden Tag schickte er mich zum Kiosk, wo ich von meinem Geld Schnaps und Tabak für ihn kaufen musste. Er ließ mich stramm stehen und verlangte, seinem Rang entsprechend gegrüßt zu werden wenn er den Raum betrat. Sobald ich auch nur den kleinsten Fehler dabei machte, brüllte er mich an und ließ mich zur Strafe irgendeine Sportübung machen. Ich hatte nicht mehr den Mut, mich zu widersetzen. Manchmal befahl er mir, mit ihm zu trinken und ließ erst wieder von mir ab, wenn ich schon nicht mehr stehen konnte. Ich scheiterte mehr und mehr an den einfachsten Dingen des Alltags. Das Granateneinsammeln hatte ich zu diesem Zeitpunkt längst aufgegeben.

Als ich kein Geld mehr hatte befahl mir der Soldat, Schnaps, Tabak und andere Lebensmittel für ihn zu stehlen. Er erklärte mir, wie ich vorzugehen hatte, und schärfte mir ein, im Falle einer Gefangennahme keine Aussagen zu machen.

Es kam, wie es kommen sollte.

Die Erde bebte in dem Moment, als ich zum ersten Mal – dem Befehl des Soldaten folgend – eine Flasche Schnaps in meiner Jackentasche verschwinden lassen wollte. Ich vermute, dass mehrere der rostigen Granaten gleichzeitig explodiert sind. Bei meiner Festnahme leistete ich keinen Widerstand. Ich erzähle den Polizisten alles – vom Ölfleck auf dem Tisch, von Gekados und zbV – bis hin zur Explosion in meiner Küche. Sie hören mir zu. Ich werde ihnen auch von meiner Frau erzählen, die ich – genau wie den Soldaten – wohl nie mehr wieder sehen werde.

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